9. September 2007

Schwedische Tradition: "Nollning"

In Schweden wird oft das "typisch Schwedische" in einer sich immer mehr globalisierenden Welt diskutiert. Mittsommer, Erdbeeren, der Sommer, rote Holzhäuser, IKEA, das gleichberechtigste Land der Welt mit dem besten Leitungswasser des Planeten - solche Themen tauchen in den Zeitungen auf.

Etwas typisch Schwedisches ist aber auch die sogenannte "Nollning", das "Nullstellen" von Schülern, die von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln oder vom Gymnasium an die Universität.

Dabei denken sich etwa die Zweitklässler auf dem Gymnasium (11. Klasse in Deutschland) immer wieder möglichst "lustige" und in den vergangenen Jahren eher demütigende Peinlichkeiten aus, um die Neuankömmlinge (10. Klasse) so richtig willkommen zu heissen.

Oft zwingt man die Neuen, sich besonders viel Alkohol einzuflössen. Die sechzehnjährige Anna wäre vergangenen Freitag beinahe bei ihrer "Nollning" gestorben.

Die Schüler des Gymnasiums Norra Real wurden von den ein Jahr älteren losgeschickt, um möglichst viele Tabletts aus Restaurants "zu besorgen". Wer nach der Meinung der Elftklässler zu wenig Tabletts brachte, musste sich im Gesicht bemalen lassen und grössere Mengen hochprozentigen Alkohol trinken.

Anna zog sich dabei eine schwere Alkoholvergiftung zu und wurde mit 3,0 Promille und einer stark herabgesetzten Körpertemperatur gottlob von Passanten gefunden. Die anderen Jugendlichen hatten die 16-Jährige einfach liegen gelassen. Nach Auskunft der Ärzte wäre sie tot, wenn sie später gefunden worden wäre.

Die Mutter Annas erstattet nun Anzeige gegen das Gymnasium, das Gymnasium seinerseits will die schuldigen Jugendlichen strafrechtlich belangen.

Der Fall Annas ist nur die Spitze des Eisbergs. Das sich ansonsten gern so zivilisiert gebende Schweden lässt seit Jahren zu, dass Jugendliche andere Jugendliche bis weit über die Grenzen des Geschmacks und der persönlichen Integrität kränken und wie im vorliegenden Fall sogar körperlichen Schaden zufügen.

Mich erinnert das an die "Dedowtschina" in Russland, dem System des Militärs, in dem die Dienstälteren die neuen Rekruten ebenfalls demütigen, misshandeln und bisweilen sogar töten.

Gewiss unterscheidet sich Russland von Schweden in dieser Hinsicht durch noch grössere Brutalität und Rücksichtslosigkeit, aber das "Nullstellen" von 16-Jährigen ist kein Ruhmesblatt für Schweden. In der Tat kommt den Schulen hierbei eine wesentliche Verantwortung zu. Alle wissen, dass die Elftklässler sich Jahr für Jahr immer neue Tricks ausdenken, um an geheim gehaltenen Orten die neuen Zehntklässler mal so richtig schön einzuweihen.

Aber eine Gesellschaft, die dies zulässt und nicht in der Lage ist, ihren Kindern den Respekt vor der körperlichen und psychischen Unversehrtheit seiner Mitbürger beizubringen, hat ein Problem.

Der Rektor von Norra Real hat bemerkt, dass er die Schuldigen im Fall Anna nicht von der Schule verweisen darf, das widerspricht den Gesetzen und Regeln. Auch das ist ein Problem. Denn Schüler, die ein 16-Jähriges Mädchen mit schwerer Alkoholvergiftung einfach liegen lassen, muss klar gemacht werden, dass sie die Grenzen weit überschritten haben. Und das geht nur über Sanktionen, wenn Gespräche nicht mehr helfen. Gespräche werden schon seit Jahren geführt und jedes Jahr liest man von erschreckenden Fällen von "nollning".

NACHTRAG: Auch Svenska Dagbladet widmet sich dem Problem. Nach Angaben von Polizeisprecher Jonas Elling werden die Erniedrigungen von Jahr zu Jahr schlimmer und der Alkoholkomsum grösser. Am Wochenende habe man daher speziell nach solchen Aktionen gesucht.

In der Nacht zum Samstag kam die Polizei zu einem solchen "Fest" im Vitabergsparken auf Södermalm. Mehrere Jugendliche waren völlig alkoholisiert. "Trink! Trink, du Schwein!" hätten Jugendliche jüngeren Schülern zugerufen. Als die Polizei auftauchte, rannten sie davon. Die Polizei schüttete acht Liter Wodka und 70 Dosen Bier und 12 Liter Wein aus.

Die Schüler waren vom Internationalen Gymnasium aus Liljeholmen. Am Montag wird sich die Rektorin mit der Angelegenheit befassen dürfen.

Jonas Elling: "Das ist ein Gesellschaftsproblem. Eltern, Polizei, Schule und Sozialam müssen zusammenarbeiten."

Leider liest man das jedes Jahr und nichts ändert sich.

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