9. November 2008

Das Bullerbysyndrom

Vor einigen Monaten schrieb der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts in Schweden, der Soziologe Dr. Berthold Franke, eine filigrane, messerscharfe Analyse über das Schwedenbild seiner Landsleute und attestierte ihnen ein "Bullerbysyndrom". Weil ihre eigene Heimat die Unschuld spätestens in der Zeit des Nationalsozialismus verloren habe und darüber hinaus noch hoffnungslos überbevölkert sei, so Dr. Franke, projizierten sie ihre verlorene Unschuld und die unerfüllten Träume auf Schweden mit einem Schwedenbild, das im Wesentlichen den Romane und Erzählungen Astrid Lindgrens entspreche und vor allem in den Erzählungen über den erfundenen Ort Bullerby zu finden sei. Und weil der Wortschöpfer seine Meister studiert hat, bemüht er gar Ernst Bloch, um seine Thesen zu zementieren.

Da man sich dann fragen mag, warum die Deutschen Kriminalromane von Henning Mankell und anderen goutieren und in Massen kaufen, die sinnlose Gewalt und Verrohung der Gesellschaft zum Inhalt haben, lieferte der Autor auch hier gleich mit einem eleganten Schlenker die Erklärung mit, sodass es uns allen wie Schuppen von den Augen fallen musste. Die vom Bullerbysyndrom befallenen Deutschen, für die Schweden das letzte oder gar einzige Paradies auf Erden ist, weiden sich gleichzeitig in eben diesen Kriminalromanen an der Befleckung und Zerstörung der Idylle.

Punkt. Aus. Fertig. Ende der Analyse. Danke. Den Kranken wurden keine Heilungschancen aufgezeigt.

Dass das vermeintliche "Bullerby-Syndrom" eher eine Krankheit ist, die nur wenige befällt, zeigt ein Blick in die Reisestatistik. Demnach liegt nicht etwa Schweden an der Spitze deutscher Reiseträume, es ist vielmehr nicht unerwartet nach wie vor Spanien, dass 11,5% der Deutschen als Reiseland Nummer 1 angeben. Was weiss der gemeine Deutsche über Spanien? Ist es möglich, dass auch hier eher die Wunschvorstellung einer Idylle den Ausschlag für die Reiseentscheidung gibt? Sonne, Strand, Gitarren, Paella, Kastagnetten und glutäugige Spanierinnen?

An zweiter Stelle rangiert Italien, das viele mit Romantik, dunkelharigen Schönlingen und gutem Essen (Pizza, Pasta...) in Verbindung bringen.

Es wäre an der Zeit, auch diese Vorstellungen mit entsprechenden Syndrombezeichnungen zu versehen. Das Flamenco-Syndrom und das Spaghetti-Syndrom wären hier vorläufige Vorschläge.

Dass der Deutsche sich auch gerne Mafia-Filme ansieht, mag dann wiederum der masochistische Zug, der Zerstörungswunsch sein, mit dem aus dem ersehnten Latin Lover in Schallgeschwindigkeit der angsterregende Killer wird, der auf einer röhrenden Vespa sitzend, mit abgesägter Schrotflinte dem Italien-Idyll das Licht ausbläst. Schnell zurück nach Duisburg, aber selbst da schlagen die Wurzeln der organisierten südeuropäischen Kriminalität aus.

Und da Schweden auch nicht an dritter Stelle der deutschen Reiselust firmiert, müssen wir uns auch gleich noch überlegen, warum so viele Deutsche Griechenland idealisieren. Ohne Ernst Bloch oder Theodor Adorno hinzuziehen zu können, lenkt sich mein Verdacht jedoch schnell auf die weltberühmte Schlagersängerin Nana Mouskori. Die war es, die uns nämlich schon vor mehr als dreissig Jahren weismachen wollte, dass in Athen allenthalben weisse Rosen blühen, woher der Begriff "Weissrosen-Syndrom" stammen muss, der fortan die deutsche Griechenland-Begeisterung erklären wird.

Möge den Lesern dieses Posts bitte Erklärendes für Österreich und die Türkei und andere Länder einfallen, in die Deutsche lieber in Urlaub fahren als nach Schweden.

Im Ernst: Menschen, und auch Deutsche sind Menschen, neigen dazu, andere Länder, oft auch das eigene ebenso zu idealisieren, wie wir unsere Freunde und Lebenspartner und -partnerinnen idealisieren. Wir projizieren Wünsche und Sehnsüchte in den anderen und in das andere. In der Regel lieben wir nicht den Ehemann, die Ehefrau, sondern die Vorstellung, die wir von ihm oder ihr haben. Leider habe ich vergessen, welcher kluge Kopf das einmal gesagt hat.

1 Kommentar:

Hansbaer hat gesagt…

Ich würde es nicht auf die Reisen reduzieren. Wenn die Deutschen in Urlaub fahren, dann wollen sie Strand, Sonne, Meer und erschwingliche Preise - alles, das, was Schweden nicht unmittelbar verspricht. Vielleicht ist es gerade der Ausdruck des Bullerbü-Syndroms, dass man eben nicht hinfährt - um das im Kopf geschaffene idealisierte Bild nicht mit der Realität abgleichen zu müssen.

Diese Inga-Lindström-Filme erzielen Traumquoten, und die Deutschen haben schon einen ziemlichen Schwedenfimmel.

Man schaue sich nur an, wieviele Internetforen und Informationsseiten es zu Schweden gibt. Über Norwegen, das in vielen Dingen Schweden ja sehr ähnelt, gibt es nicht halb so viel.

Schweden ist einfach durch und durch positiv belegt, und das oft jenseits aller Vernunft.
Ich bin derzeit viel in Schwedenforen unterwegs, und da kommen öfters Leute, die mit einer gewaltigen Naivität meinen, in Schweden würde sie das perfekte Leben erwarten.